Ich lerne sprechen von Ulrich Roski An sich bin ich ja Sänger, vor etwa einem Jahr habe ich dann aber das Singen aufgegeben, beziehungsweise das Singen hat mich aufgegeben, wie man’s nimmt, beides mehr oder weniger aus gesundheitlichen Gründen. Es begann alles im letzten Sommer, die Urlaubsreise stand vor der Tür, aber ich hatte so ein komisches Gefühl im Hals. Meine Frau riet mir, praktisch, wie sie nun mal veranlagt ist: »Dann geh doch besser vorher noch mal zum Arzt, vielleicht sind es die Mandeln.« »Ich habe seit meinem zehnten Lebensjahr keine Mandeln mehr«, wandte ich ein. »Was kann ich denn dafür?« maulte sie. Sie will einfach immer an allem schuld sein. Der Hausarzt winkte mich gleich angeekelt durch und verwies mich an die Charité zu einem Spezialisten für Hals-, Nasen- und Ohren-Gedöns. Der guckte in meinen Hals und wiegte bedenklich das Haupt. »Wie sieht’s denn aus, Herr Sauerbruch«, fragte ich scherzend. »Nun ja«, begann er sachlich, »also die Mandeln sind es nicht.« »Das hätte mich auch gewundert«, scherzte ich weiter. »Die Diagnose stelle ich«, unterbrach er mich streng. »Und die lautet?« »Es sieht stark aus wie ein bösartiges Zungenkarzinom«, meinte er besorgt. »Klingt harmlos«, beruhigte ich ihn. »Wie man’s nimmt«, meinte er. »Sigmund Freud ist daran gestorben. Sind Sie Pfeifenraucher?« »Nicht, daß ich wüßte«, entgegnete ich. »Müßten Sie aber eigentlich bei dem Befund. Freud war auch Pfeifenraucher.« »Ich bin kein Psychologe«, wandte ich ein. »Trinken Sie?« gab er mir eine zweite Chance. Ich wollte ihm etwas entgegenkommen und meinte versöhnlich: »Um die Zeit eigentlich nicht. Aber was haben Sie denn da?« So blödelten wir noch eine Weile rum, bis er schließlich sagte: »Gegen diesen Fremdkörper müssen wir dringend etwas unternehmen. (Pause) Und zwar in absehbarer Zeit. (Pause) Haben Sie heute noch etwas vor?« Es wurde mein bislang außergewöhnlichster Urlaub. Ich habe im Krankenhaus sehr interessante Menschen kennengelernt, darunter viele Akademiker, und viele tolle Apparate. Laserstrahlen kannte ich ja vorher nur aus meinem Farbdrucker. Ich bin auch wieder fast gesund geworden, bloß daß meine Stimme nun so klingt, als wenn eine Ziege auf Blech pinkelt. Und meine Zunge so behäbig artikuliert, wie sie es früher erst nach dem zehnten Whisky tat. Auch den haben mir die Ärzte übrigens streng verboten, das heißt nicht nur den zehnten, sondern auch die beiden davor. So konnte das alles nicht weitergehen! Wohlan, sagte ich mir eines Morgens, hier muß etwas unternommen werden, es hilft nichts, nur still dazusitzen und zu jammern: ›Wird schon werden‹ und: ›Tumor ist, wenn man trotzdem lacht!‹ Ich gehe hin und lerne wieder sprechen. Der dafür zuständige Lehr- und Fachbereich ist die Logopädie. Logopädie befaßt sich mit Wörtern, nicht mit Worten, wie man oft fälschlich zu sagen pflegt. Worte sind im klassischen deutschen Sprachgebrauch zusammenhängende Sätze, die nicht einer gewissen Inhaltsschwere ermangeln, wie zum Beispiel die berühmten ›Sieben letzten Worte unseres Herrn Jesu Christi am Kreuz‹, von denen eines besonders gern von unseren Politikern zitiert wird, nämlich: ›Bitte nageln Sie mich jetzt nicht fest!‹ Zurück zu meinen Sprechversuchen: Ich rufe also unverzagt beim Logopäden an, das scheint ein launiger Typ zu sein, denn er wartet gar nicht erst das Ende meines Gestammels ab, sondern kräht fröhlich ins Telefon: »Kommen Sie bei uns, hier werden Sie geholfen!« Irgendwo habe ich das schon einmal gehört. Offenbar hält er mich für einen hoffnungslosen Fall und verweist mich spontan an eine Mitarbeiterin, die für meine Probleme geradezu prädestiniert sei. Er, so rechtfertigt er sich, befasse sich im wesentlichen mit Kindern. Soso, mit Kindern, denke ich. Dann gehe ich wohl wirklich lieber zu der Mitarbeiterin. Ich wollte ja einen Logopäden und keinen Pädophilen. Die Mitarbeiterin sieht eher aus wie eine versehentlich eingestellte Praktikantin. Mit ihren planlos hochgesteckten braunen Locken und der schmalen Nickelbrille erinnert sie an eine puritanische Grundschullehrerin aus amerikanischen Genrefilmen. Auf ihrem Schreibtisch liegt das Elementarbuch der Logopädie. Das vermittelt nicht gerade den Eindruck überlegener Sachkompetenz und bestärkt mich in meinem Verdacht, hier an eine untergeordnete, gleichsam noch auf der Suche befindlichen Instanz verwiesen worden zu sein. Aber man soll ja, gerade als Hilfesuchender, keine vorschnellen Urteile fällen. »Zunächst«, sagt sie, »wollen wir einige Zungenübungen machen.« Na dann wollen wir mal. »Strecken Sie bitte die Zunge heraus, so weit, wie es geht. Das sieht nicht sehr appetitlich aus, aber das spielt jetzt keine Rolle.« Sie macht mir die Sache vor, es sieht wirklich nicht appetitlich aus, aber das spielt ja angeblich keine Rolle. Nachdem mir diese unappetitliche Übung mehrfach zur Zufriedenheit gelungen ist, soll ich nunmehr meine Lippen ablecken, mal linksrum, mal rechtsrum. Das kann ich auch, hätte ich aber auch zu Hause gekonnt. Kann sie nicht etwas Schwierigeres von mir fordern, zum Beispiel, daß ich meine Augenbrauen ablecke? Der Mensch braucht doch die Herausforderung! »Sehr gut«, lobt sie mich. »Und nun formen Sie die Zunge bitte zu einer Zigarre!« Na hallo, durchfährt es mich. Zigarre? Praktikantin? Da war doch mal was? Ich bin so verwirrt, daß mir die Zigarrennummer völlig mißlingt. Ein Glück, daß ich eben nicht rumgemäkelt habe. »Das macht nichts«, tröstet sie. Na, da bin ich aber beruhigt. »Und nun wollen wir zu den Sprechübungen kommen. Ich lese Ihnen etwas vor, und Sie sprechen mir die Worte nach.« Sie meint natürlich Wörter, aber ich will nicht schon wieder vorschnell mäkeln. Also spricht sie: »Bla, bla, bla!« und danach: »Blö, blö, blö!« und ich spreche ihr pflichtgemäß nach. Sie wird sich schon etwas dabei denken, denke ich. Dann schaut sie verstohlen ins Elementarbuch der Logopädie und schon serviert sie mir den nächsten Knaller: »Gack, gack, gack!« Das hätte ich jetzt wirklich nicht erwartet. Ich bin so froh, daß ich hier sein darf und endlich wieder sprechen lerne. Für heute war das schon eine ganze Menge Stoff, und ich werde in Ehren entlassen. Im Vorzimmer tobt eine Horde minderjähriger Kinder. Sie sehen sehr zugewandert aus und spielen Indianer. Ich möchte das Erlernte gleich sinnvoll einsetzen und krächze mühsam: »Macht mal nicht so’n Krach, ihr Bla-Bla-Blagen!« Und der kleine Häuptling entgegnet frech: »Bleichgesicht redet mit gespaltener Zunge!« Das fehlte mir gerade noch! Normalerweise hätte ich ihm gleich die Fresse poliert, jedoch sein Vater steht daneben, ein stämmiger Doppelpaßanwärter. Dem erklärt eine andere Logopädin gerade, sein Kind könne jetzt einwandfrei ›Sch, sch‹ sagen. Ach, das lernen die also hier! Kaum rätselhaft, welches deutsche Wort der Kleine mit dem soeben erlernten Zischlaut am häufigsten bilden wird. ›Sch!« Und sowas zahlt die Krankenkasse! Für mich bleibt nun erstmal abzuwarten, wie meine Umwelt auf das neuerworbene Sprachgut reagieren wird. Allgemein reagiert die Umwelt sehr teilnahmsvoll auf mich und möchte mir ständig helfen. Meine Nachbarn haben mir zum Beispiel während meiner Abwesenheit die Reste ihres Abendessens in die Küche gestellt. Es gab Zunge in Aspik.